Nachlass Dr. Jürgen Herzog

Nachlass: 1994 erhielt die Bibliothek 546 Bände aus dem Nachlass von Dr. Jürgen Herzog (verstorben 1993), der als Afrika-Historiker am Institut für Allgemeine Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) tätig war. Am Leibniz-Zentrum Moderner Orient arbeitete er von 1992 –1993. Die Signaturen des Herzog Nachlasses beginnen mit dem Buchstaben H (z.B. H 280).

Jürgen Herzog (20.03.1937 – 29. 07.1993) lernte ich vor 20 Jahren bei einem meiner ersten Besuche im „Forschungsschwerpunkt Moderner Orient“ (FSP) in der Prenzlauer Promenade 149 in Berlin kennen: Ein kleiner, zarter, schon von seiner Krankheit schwer gezeichneter Mann. Als ich über den langen, dunklen Flur in Richtung Sekretariat ging, begrüßte mich Ingrid Malsch, Chef-Sekretärin und gute Seele der Einrichtung, über den Flur hinweg laut mit den Worten: „Da kommt unser neuer Chef.“ Jürgen Herzog, der zufällig neben ihr stand, kommentierte das mit den Worten: „O Schreck, lass nach.“ Dann hielt er sich mit einer für ihn typischen Geste die Hand vor den Mund und meinte sofort: „Das war nicht böse gemeint.“ Wie Peter Sebald in seiner Trauerrede auf Jürgen Herzog sagte, war das kennzeichnend für ihn: Eine sarkastische oder spöttische Bemerkung und dann eine rasche Entschuldigung. Herzog war ein bescheidener Mann, der in den Arbeitsberichten „sein Licht eher unter den Scheffel stellte“. Daher ging die Originalität seiner Überlegungen, zumal in den Umbruchzeiten der frühen 1990er Jahre, leicht unter. 

Als einen der ersten wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen des FSP erlebte ich Jürgen Herzog im internen Kolloquium des Forschungsschwerpunkts mit Ausführungen zur Ökologie im subsaharischen Afrika. Achim von Oppen hat sie dann nach Herzogs Tod unter dem Titel „Kolonialismus und Ökologie im Kontext der Geschichte Tansanias. Plädoyer für eine historische Umweltforschung“ als Nummer 3 der Working Papers des Forschungsschwerpunkts herausgegeben. Ich erinnere mich an Herzog als einen Wissenschaftler, der bei seinen Ausführungen vor Begeisterung geradezu sprühte und ich fragte die Runde der Mitarbeiter*innen, ob seine Thematik nicht einer der Arbeitsschwerpunkte des FSP sein könnte. Offenbar war aber die Zeit noch nicht reif dafür und sein trotz allem überraschender Tod kaum 6 Monate später tat ein Übriges, dass sich zunächst keine Fortsetzung seiner Arbeit realisierte.

Jürgen Herzog hatte eine für Akademiker in der DDR nicht untypische Biographie. Nach einer Berufsausbildung als Elektromechaniker und einer zweijährigen Tätigkeit als Signalschlosser bei der Reichsbahn absolvierte er die Arbeiter- und Bauernfakultät und begann 1962 an der Humboldt-Universität ein Studium der Völkerkunde und Ökonomie. Von 1967 bis 1971 hatte er eine Aspirantur beim renommierten Institut für Orientforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR inne, die er mit einer Promotion zum Thema “Nationale Befreiungsrevolution und traditionelle Führungskräfte. Ein Beitrag zum Problem der Überwindung vorkapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse und Institutionen im heutigen Afrika, dargestellt am Beispiel der Entwicklung Tansanias“ abschloss. Ob er zunächst für eine Tätigkeit im journalistischen Bereich vorgesehen war, ließ sich nicht eruieren. Immerhin existiert ein Manuskript für einen Vortrag mit dem Titel: „Tradition und Fortschritt im afrikanischen Dorf“ vom 08.04.1974 für Radio DDR II. Nach der Promotion sollte er dann nach einiger Zeit zu einer Feldforschung nach Tansania ausreisen. Der Zeitpunkt ließ sich bisher noch nicht herausfinden. Bei den für den Auslandsaufenthalt erforderlichen medizinischen und Tropentauglichkeitsuntersuchungen stellte sich offenbar schon seine beginnende Erkrankung heraus. Mit seinem Auslandsaufenthalt wurde es zu seiner großen Enttäuschung also nichts. Herzog arbeitete in der Folge an der Akademie der Wissenschaften der DDR im Institut für allgemeine Geschichte. Nach der Wende wurde er in den „Forschungsschwerpunkt moderner Orient in der Förderungsgesellschaft wissenschaftliche Neuvorhaben“ übernommen, wo er bis zu seinem Tod tätig war. 

Geografischer Schwerpunkt der Veröffentlichungen Jürgen Herzogs war das subsaharische Afrika und im engeren Sinne Kenia und vor allem Tansania. Mit Tansania befasste er sich schon in seinen ersten Publikationen aus den frühen 1970er Jahren in Aufsätzen und in seinem Buch: Traditionelle Institutionen und nationale Befreiungsrevolution in Tansania: zum Problem der revolutionären Überwindung vorkapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse im heutigen Afrika, das 1975 im Akademie-Verlag erschien. Sein Aufsatz: „Traditionelle Führungskräfte und nichtkapitalistischer Entwicklungsweg in Tansania“ in den angesehenen Mitteilungen des Instituts für Orientforschung aus dem Jahr 1970 sind wohl eine vorbereitende Forschungsarbeit zu seiner Dissertation gewesen sein. Gleiches gilt wahrscheinlich auch für: „Nationale Befreiungsrevolution und traditionelle Führungskräfte. Ein Beitrag zum Problem der Überwindung vorkapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse und Institutionen im heutigen Afrika am Beispiel Tansanias“ in Contemporary Review, ebenfalls 1970. Es wäre nicht uninteressant, wenn man diese Arbeiten mit den etwa zeitgleich in der Bundesrepublik erschienen von linken Autoren wie Christian Siegrists „Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas“ (Freiburg 1968) vergleichen würde. Im Grunde verfolgte Herzog das Thema der traditionellen Herrschaft und der Modernisierung weiter und häufig am Beispiel Tansanias oder Kenias, wobei das „Auge des Ethnographen“ immer wieder involviert war, wie in: „J. Nyereres Traditionsverständnis, seine Entwicklung und seine Grenzen unter den gegenwärtigen Bedingungen“, in: AALa* 3 (1975) oder „Antikolonialismus und Traditionalismus in ihrer Bedeutung für Genesis und Entwicklung des Nationalismus in Kenia“, ebenfalls in: AALa 11 (1983). Überhaupt spielte die Ethnologie stark in seine Themen hinein: „Traditionen und Traditionalismus in nichtproletarischen Sozialismustheorien. Das Beispiel Tansania“, in: Geistige Profile Asiens und Afrikas (1982) oder in dem interessanten Buch: „Jomo Kenyattas frühe ethnographische Arbeiten und ihre politische Bedeutung“, ebenfalls von 1982. Darüber hinaus befasste er sich vor allem mit den ethnologischen Theorien speziell der britischen Sozialanthropologie. So in den Aufsätzen: „The relation between bourgois social anthropology and history: The British School after World War Two”, in: Sources and Historiography in African National-liberation Movements, von 1978 oder dem Buch: „Der Einfluss der ‘politischen Soziologie’ auf die bürgerliche Ethnographie: die Konflikttheorie in der englisch-sprachigen Afrika-Anthropologie“, von 1980. In seinem Nachlass im ZMO finden sich die entsprechenden Exzerpte wie auch solche zu Arbeiten von Max Weber. Das hielt ihn nicht davon ab, sich auch an spezielle historische Arbeiten zu machen. Hier sei vor allem seine „Geschichte Tansanias: vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“ Berlin 1986 (Deutscher Verlag der Wissenschaften) genannt. 

Jürgen Herzog hatte offenbar ein deutliches historisches Interesse. Dabei ging es ihm vor allem um die Geschichte des anti-kolonialen Kampfes und die Phase des Übergangs von diesem zur Übernahme der politischen und institutionellen Macht durch die Befreiungsbewegungen, wiederum vor allem am Beispiel Tansanias. Als Beleg für diese Interessen sei auf seine Artikel „Transfer of Power oder Unabhängigkeitskampf? Die Entwicklung der Befreiungsbewegung unter den Bedingungen des Siedlerkolonialismus in Kenia (1945 – 1963)“ in dem Sammelband: Wege zur Unabhängigkeit. Die Antikoloniale Revolution in Afrika und Asien und die Zukunft der Entwicklungsländer, hrsg. von Martin Robbe, Berlin 1989 und in demselben Band: „Koloniales Erbe und Neubeginn – Voraussetzungen und Hemmnisse sozialistisch orientierter Entwicklung in Tansania.“ Auch in diesem Kontext hatte er Grundsatzfragen behandelt: „Historischer Prozess und Unterentwicklung in Asien und Afrika: Forderungen an den Historiker und wie er sich ihnen stellen kann“, in AALa 18 (1990).

Den größten wissenschaftlichen Weitblick aber hatte Jürgen Herzog im Zusammenhang mit der ökologischen Frage als historischer Frage. Neben dem oben schon angesprochenen Text aus den Working Papers hatte er schon 1988 in AALa 16 in einem ersten Artikel zu dieser Thematik die Frage gestellt: „Ökologie als Thema der Geschichte? Kritisches und Nachdenkliches zur Afrika-Historiographie (dargestellt am Beispiel Ostafrikas).“ Eine erste Version dieses Textes in seinem Nachlass ist unter dem 17.08.1987 datiert. Hier denkt er über das nach, was er dann 1993 in erweiterter und neu überdachter Form vorlegte. Man kann es als eine Art Vermächtnis verstehen, das in seinem Sinne fortgeführt werden sollte. Ein erster Schritt dazu ist die am 19.09.2013 stattfindende Diskussionsrunde am ZMO, in der gegenwärtige Mitarbeiter*innen des ZMO diesen Ausschnitt aus Jürgen Herzogs Arbeit mit Blick auf ihre eigene Forschung diskutieren.

Berlin, den 23. Juli 2013

Kolonialismus und Ökologie im Kontext der Geschichte Tansanias: Plädoyer für eine historische Umweltforschung, Arbeitshefte des Forschungsschwerpunkts moderner Orient, Nr. 3, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Achim von Oppen, Berlin: Das Arabische Buch, 1994, 52 S.

Historischer Prozeß und Unterentwicklung in Asien und Afrika: Forderungen an den Historiker und wie er sich ihnen stellen kann, in: Asien, Afrika, Lateinamerika 18:4 (1990), 586–598.

Siedlerkolonialismus und Arbeiterklasse – das Beispiel Kenia, in: Martin Robbe (Hg.), Wege zur Unabhängigkeit. Die antikoloniale Revolution in Asien und Afrika und die Zukunft der Entwicklungsländer, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1989, 61-68.

„Transfer of Power“ oder Unabhängigkeitskampf? Die Entwicklung der Befreiungsbewegung unter den Bedingungen des Siedlerkolonialismus in Kenia (1945-1963), in: Martin Robbe (Hg.), Wege zur Unabhängigkeit. Die antikoloniale Revolution in Asien und Afrika und die Zukunft der Entwicklungsländer, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1989, 160-172.

„Koloniales Erbe“ und Neubeginn – Voraussetzungen und Hemmnisse sozialistisch orientierter Entwicklung in Tansania, in: Martin Robbe (Hg.), Wege zur Unabhängigkeit. Die antikoloniale Revolution in Asien und Afrika und die Zukunft der Entwicklungsländer, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1989, 235-246.

mit Annemarie Hafner (Hrsg.): Sklave, Kuli, Lohnarbeiter. Formierung und Kampf der Arbeiterklasse in Kolonien und national befreiten Ländern. Ein historischer Abriß, Berlin: Dietz, 1988.

Ökologie als Thema der Geschichte? Kritisches und Nachdenkliches zur Afrika-Historiographie (dargestellt am Beispiel Ostafrikas), in: Asien, Afrika, Lateinamerika 16:2 (1988), 287-296.

Geschichte Tansanias: vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, mit 30 Abbildungen, 3 Karten und 23 Tabellen, Berlin: Dt. Verl. der Wiss., 1986.

Antikolonialismus und Traditionalismus in ihrer Bedeutung für Genesis und Entwicklung des Nationalismus in Kenia, in: Asien, Afrika, Lateinamerika 11:2 (1983), 288-302. 
Zu den objektiven Faktoren der Genesis des Nationalismus in Tropisch-Afrika, in: Asien, Afrika, Lateinamerika 10:6 (1982), 1064-1074.

Traditionen und „Traditionalismus“ in nichtproletarischen Sozialismustheorien: das Beispiel Tansania, in Georgiĩ F. Kim et al (Hg.), Geistige Profile Asiens und Afrikas: aktuelle Fragen der ideologischen Auseinandersetzung in der nationalen Befreiungsbewegung, Berlin: Akademie, 1982, 380401.

Jomo Kenyattas frühe ethnographische Arbeiten und ihre politische Bedeutung, Berlin: [s.n.], 1982.         

Der Einfluß der „politischen Soziologie“ auf die bürgerliche Ethnographie: die Konflikttheorie in der englischsprachigen Afrika-Anthropologie, Berlin: [s.n.], 1980.

The Relation between bourgeois social anthropology and history: the “British School” after World War Two, in: Sources and Historiography on African National-Liberation Movements (proceedings of the 2nd International Conference of the Socialist Countries' Africa Historians, September 5-8, 1977, Budapest), Institute for World Economics of the Hungarian Academy of Sciences, 1978, 17-26.

J. K. Nyereres Traditionsverständnis - seine Entwicklung und seine Grenzen unter den gegenwärtigen Bedingungen, in: Asien, Afrika, Lateinamerika 3:5 (1975), 822-824. 
Antikoloniale Protestbewegung auf ethnischer Basis und Probleme der Herausbildung einer geeinten nationalen Befreiungsfront in Tanganyika: vor den zwanziger Jahren bis 1961, Berlin: [s.n.], 1975.      

Traditionelle Institutionen und nationale Befreiungsrevolution in Tansania: zum Problem der revolutionären Überwindung vorkapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse im heutigen Afrika, Berlin: Akad.-Verl., 1975.      

Nationale Befreiungsrevolution und traditionelle Führungskräfte: ein Beitrag zum Problem der Überwindung vorkapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse und Institutionen im heutigen Afrika – dargestellt am Beispiel der Entwicklung Tansanias, in: Contemporary Review, 1970.

Traditionelle Führungskräfte und nichtkapitalistischer Entwicklungsweg in Tansania, in: Mitteilungen des Instituts für Orientforschung 16:2 (1970), 252-270.