Staat und Gesellschaft

Dieser Programmbereich untersucht, wie soziale Gruppen, Bewegungen und Netzwerke in ihren jeweiligen regionalen Kontexten Staat und Gesellschaft herstellen, repräsentieren und heraus­fordern. Insbesondere wird dabei die Frage erörtert, welche Faktoren zum Wandel sozialer Ordnungen beitragen. Der Programmbereich betont die historische Analyse, auch wenn er grundsätzlich interdisziplinär aus­gerichtet ist.

Zwei Forschungsperspektiven stehen im Zentrum der Diskussion: einerseits die Bottom-up Perspektive, die lokalen Praktiken und Deutungen besonderen Raum schenkt, und andererseits die Rolle von Erinnerung und Erinnerungskultur bei der Konstitution und Herausforderung sozialer und kultureller Ordnungen.

Im Rahmen der ersten Perspektive werden lokale Vorstellungen von Staat, Staatlichkeit und anderen Formen sozialer Ordnungen untersucht, die sich von den Ideen zentral­staatlicher oder internationaler Akteure z.T. stark unterschieden. Es geht hierbei weniger um Diskursanalyse als um konkrete Praktiken in der Gestaltung von Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppierungen sowie zwischen diesen und dem Staat. Der translokale Ansatz ermöglicht es dem Programm­bereich, Prozesse der Konstitution und Disruption von Staaten, Nationen und anderen sozialen und politischen Gruppen und Ordnungen zu verstehen.

Erinnerung und Erinnerungskultur beschäftigen den Programmbereich in mehrfacher Hinsicht. Die Wissenschaftler*innen verstehen Erinnerungen und Repräsentationen sozialer Ordnungen als Schlüssel zur Etablierung und Herausforderung dieser Ordnungen. Hierbei spielt die Erinnerung an gelungenes, retrospektiv idealisiertes oder auch gescheitertes Gemein- oder Staatswesen eine ebenso tragende Rolle wie die Erinnerung an erlebte bzw. wahrgenommene (Un-)Gerechtigkeit. Besonders geht es auch um die Frage, wie Erinnerung aktiviert wird, um politische oder zivilgesellschaftliche Mobilisierung zu erreichen, was wiederum in einem engen Zusammenhang mit Fragen steht, welche im Kontext lokaler Vorstellungen von sozialer Ordnung verhandelt werden.

Der Programmbereich führt sowohl größere Gruppenprojekte als auch Klein- und Einzel­projekte zusammen und bringt sie produktiv miteinander ins Gespräch.

Das moderne Indien in deutschen Archiven, 1706–1989 (MIDA)

Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Langfristvorhaben (November 2014 bis Oktober 2026) unter Beteiligung von Prof. Dr. Ravi Ahuja, Centre for Modern Indian Studies (CeMIS) an der Universität Göttingen, Dr. Heike Liebau, Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) Berlin, und Prof. Dr. Michael Mann, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften (IAAW), HU Berlin.

Crafting Entanglements: Afro-Asian Pasts of the Global Cold War (CRAFTE)

In der Geschichtschreibung zum Kalten Krieg erscheint der globale Süden oft nur als Schauplatz der Blockpolitik zwischen Ost und West. Zwar werden in der jüngeren Forschung verstärkt Stimmen aus Afrika und Asien in den Blick genommen, allerdings wissen wir noch wenig über die Beziehungen dieser Akteure untereinander. Um diese zu beleuchten, befasst sich dieses Projekt unter Leitung von Dr. Anandita Bajpai mit Studierenden- und Frauennetzwerken, medialen Verflechtungen durch Radiosender und Filmfestivals sowie der geteilten Stadt Berlin als Schauplatz komplexer und intensiver Süd-Süd-Beziehungen. Im Mittelpunkt stehen miteinander verbundene Lebenswege (entangled trajectories) asiatischer und afrikanischer Akteure und die Frage, wie diese in den globalen Kalten Krieg eingebettet waren, aber auch, wie sie diesen ihrerseits prägten. Ziel ist es, gestützt auf Methoden der globalen Verflechtungsgeschichte, zu einer inklusiveren Geschichtsschreibung beizutragen.

Der Kampf um „Gerechtigkeit“ und „Legalität“: Minderheiten im Zarenreich und der Sowjetunion

Was erwarteten muslimische und jüdische Gruppen im Zarenreich sowie krimtatarische, armenische und andere Nationalitäten unter sowjetischer Herrschaft, wenn sie „Gerechtigkeit“ und „Legalität“ forderten? Und was erreichten sie damit?

Von „Rechtsstaatlichkeit“ gibt es keine allgemein gültige Definition, stattdessen konkurrieren über ein halbes Dutzend Indices um Anerkennung. Dem Zarenreich und der Sowjetunion würde jedoch keiner dieser Indices eine hohe Punktzahl einräumen. Und doch waren „Legalität“ (zakonnost‘) und „Gerechtigkeit“ (spravedlivost‘) in beiden Staaten wichtig. Geleitet von PD Dr. Stefan B. Kirmse, untersucht dieses vom ERC geförderte Projekt daher die Art und Weise, wie sich religiöse und nationale Minderheiten von den „Großen Reformen“ der 1860er Jahre bis zur Auflösung der UdSSR im Jahr 1991 routinemäßig „Legalität“ und „Gerechtigkeit“ zunutze machten, um ihre Rechte einzufordern. Im Dialog mit lokalen Partnern in sechs sowjetischen Nachfolgestaaten betrachtet das Forschungsprojekt Minderheiten sowohl „von oben“ als auch „von unten“: als Teilnehmer*innen an politischen Entscheidungen und öffentlichen Debatten, als Klägerinnen und Richter und als lokale Aktivist*innen.

Timely Histories: Gesellschaftsgeschichte der Zeit in Südasien

Das Projekt hat das Ziel, die Geschichte von Zeit und von Zeitkulturen in Südasien zwischen 1500 und den 1950er Jahren auf der Grundlage eines praxis- und prozessorientierten Ansatzes für historische Vergangenheiten zu schreiben. In fünf modularen Projekten, die diesen breiten Zeitraum abdecken, sollen die abgestuften Vergangenheiten der Verschiebungen und Transformationen, die innerhalb der Zeitkulturen Südasiens stattfanden, untersucht und geschrieben werden. Dabei wird von den üblichen Ansätzen abgewichen, die sich entweder auf das Gerät (die Uhr) oder auf moderne nationalstaatliche Institutionen wie Armee, Schule, Fabrik und Büro konzentrieren. Stattdessen rückt es - jenseits des Gerätezentrismus - die "andersartige" Räume (othered spaces) zeitlicher Praktiken wie Feld, Bauernhof, Dschungel und Fluss in den Mittelpunkt der Zeitgeschichte.

Dieses auf fünf Jahre angelegte Forschungsprojekt unter der Leitung von Dr. Nitin Sinha begann im Januar 2021. Das Projekt wird durch das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizont 2020 der Europäischen Union (ERC Consolidator Grant) unter der Fördervereinbarung Nr. 866421 gefördert.

Projekte von Affilierten und Assoziierten Forscher*innen

Anna Helfer

Contested History: The appropriation and re-interpretation of Senegalese past in artistic and intellectual processes in Dakar

Jona Vantard

Geschichte(n) als soziale Praxis in Assam nach 1874

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