#15

Auf dem Weg nach Damaskus

von Johannes Becker

“Endlich ist Syrien frei, euch allen eine gute Reise!“, wünscht uns der Mann enthusiastisch und überschwänglich, bevor er sich von seiner Mutter verabschiedet, die in das Auto einsteigt, dessen Fahrer uns – zwei Frauen und mich – von Amman nach Damaskus bringen soll. Es ist nun bald vier Monate her, dass die Assad-Diktatur gefallen ist. Während zu Beginn der Reise auch bei mir Euphorie überwiegt und diese nie ganz vergeht, mischt sie sich unterwegs dennoch mit anderen Eindrücken: Erlebnisse bürokratischer Einschränkungen, der Unsicherheit und der Gegenwart der schrecklichen Vergangenheit charakterisieren die Fahrt nach Damaskus, im Laufe derer auch deutlich wird, wie neu, kompliziert oder ungeklärt vieles noch ist – in Bezug auf die Nachbarländer und in Bezug auf die Machtverhältnisse in Syrien selbst.

Zu Beginn lächeln wir zunächst über etwas absurde Vorschriften, die das neu auflebende Reisebusiness zu einer logistischen Herausforderung werden lassen: Jordanische Taxifahrer dürfen momentan nur alle vier Tage (Stand: 3.4.2025) nach Syrien reisen, warum auch immer. Viel einschneidender sind andere Regulierungen: Die jordanischen Verordnungen erlauben es Jordanier*innen gewöhnlicherweise derzeit nicht, über den Landweg nach Syrien einzureisen, sondern nur über den Luftweg, ein äußerst teures Unterfangen (auf jeden Fall teurer als die 100€ für den Platz im Taxi oder 20€ für ein Busticket, von dem es wiederum heißt, dass es momentan nur von syrischen und libanesischen Staatsbürger*innen erworben werden könne).

Die mitreisenden Frauen besitzen beide die jordanische Staatsbürgerschaft. Die so enthusiastisch verabschiedete Mutter hat Glück. Bei ihr wird aufgrund ihres Alters von 73 Jahren nach langen Verhandlungen an der jordanischen Grenze ein Auge zugedrückt, weil sie ihren schwerkranken Bruder in Syrien besuchen will. Sie argumentiert erfolgreich, dass sie eigentlich Syrerin sei, obwohl sie nur ihre Geburtsurkunde und ein Schulzeugnis von dort vorweisen kann. Sie sei jung nach Jordanien verheiratet worden und verfüge daher über keine weiteren syrischen Papiere mehr.

Die andere Frau hat weniger Glück. Als Doppelstaatlerin war sie am Flughafen in Amman mit ihrem jordanischen Pass eingereist. Hätte sie stattdessen ihren niederländischen Pass vorgezeigt, hätte sie weiterreisen dürfen. So wird ihr die Weiterfahrt zu einer Hochzeit in Syrien verweigert. Sie protestiert gegen diese Entscheidung und verwickelt die jordanischen Grenzbeamt*innen in eine lange Diskussion. Diese ist noch im Gange, als der Taxifahrer mich in ein anderes gerade vorbeikommendes Taxi winkt, um mir eine schnellere Weiterfahrt zu ermöglichen.

Neben dem neuen Taxifahrer sitzt nun Ahmad bei mir im Auto, ein Arzt, der 1998 zum Studium in die USA ausgewandert ist und zum ersten Mal seit 2010 wieder nach Syrien reist. Er zückt das Handy, um das Schild „Die Arabische Republik Syrien heißt Sie willkommen“ zu fotografieren, zögert dann, ob denn Fotografieren erlaubt sei? Ja, der Taxifahrer bekräftigt es mehrmals, Fotografieren sei nun erlaubt, vielleicht sogar erwünscht.

Auf zweiteres deutet ein Bild im Grenzgebäude hin, das dazu auffordert, ein Selfie zu machen mit dem syrischen Falken in den neuen Farben grün-weiß-schwarz und drei Sternen: „Freies Syrien“, „Mach ein Selfie“. Die Bilder zirkulieren, jeder Rückkehrer macht eins, ich für Ahmad und Ahmad für mich.

Die Abfertigung dauert eine Minute und die im Internet von den syrischen Behörden zumindest für die Einreise per Flugzeug vor kurzem angekündigten stattlichen Einreisegebühren (125US$) werden bei mir nicht erhoben, schon ist der Pass gestempelt. Ahmad aber hat an den Mann am Schalter noch eine Frage: „Wäre denn etwas vorgelegen gegen mich, wenn ich früher versucht hätte einzureisen – nur aus Interesse?“ Er spielt auf die frühere Angst so vieler Syrer*innen an, direkt bei der Einreise festgenommen zu werden, aufgrund von Vorwürfen, von denen sie nichts wussten. Normalerweise versuchte man über Kontakte in den Behörden vor der Reise herauszufinden, ob etwas im System gespeichert war. „Nein, ich sehe nichts“, sagt der Grenzbeamte und lächelt. Ahmads Bruder wurde 2013 an einem Checkpoint verhaftet und ist seither verschwunden.

Die Autobahn nach Damaskus ist dunkel, die Landschaft links und rechts der Straße liegt im Dunkeln (es ist aber auch nicht dicht besiedelt).

Während es in Damaskus neuerdings eher 6-8 Stunden am Tag Strom gibt anstatt der zuvor üblichen 3-4 Stunden, ist dies auf dem Land oft weniger. Spärlicher Ersatz kommt durch Generatoren oder Solaranlagen. Die vierspurige Straße ist leer, der Taxifahrer nimmt dies zum Anlass, sein Auto zu testen und bis auf 170km/h zu beschleunigen, während Ahmad, der dies aus den USA nicht gewohnt ist, etwas Angst bekommt, das sei ja nicht wirklich sicher.

Mein Handy klingelt, ich werde von meinem Mobilfunkanbieter in einem neuen Land willkommen geheißen… in Israel…

 

Die Autobahn liegt nicht nahe an der Grenze, so dass es unwahrscheinlich ist, dass es sich um ein mobilfunktechnisches Versehen handelt. Ungefähr um die Zeit, als ich das Signal empfange, zerbombt die israelische Luftwaffe eine Fahrtstunde weiter nördlich an derselben Autobahn, in al-Kiswah, Stellungen der syrischen Armee. Als ich in Damaskus frage, meinen manche, das mit dem Mobilfunksignal sei wegen dieser Angriffe. Andere meinen, das sei Provokation. Und wieder andere führen an, das sei schon Jahre zuvor vorgekommen. Auflösen lässt es sich nicht, wie es dazu kam. Es ist aber auf jeden Fall ein Zeichen unsicherer Staatlichkeit, wenn ein fremdes Mobilfunknetz so weit ins Land reicht. Wahrscheinlich wäre dieser Moment meine einzige Möglichkeit gewesen, in Syrien mit meinem deutschen Handy zu telefonieren (sonst hatte ich keinen Empfang) und recht billig dazu im Vergleich mit anderen Ländern in der Region. Auf der Rückfahrt erhalte ich dann auf derselben Autobahn die Meldung: Willkommen im Libanon.

Der Taxifahrer und Ahmad identifizieren auf dem Weg die früheren Checkpoints des Assad-Regimes, die für Reisende nicht nur angstbesetzt waren, sondern sie auch viel Geld kosteten in dieser Diktaturwirtschaft, in der man die Soldaten bei jeder Durchfahrt bestechen musste. Teils liegen sie in Trümmern, teils kontrollieren dort wenige leicht bewaffnete Sicherheitskräfte die spärlich vorbeifahrenden Autos. Ahmad merkt an, dass sie uneinheitliche Uniformen und viele von ihnen Bärte trügen. „Sehen die jetzt alle so aus?“, fragt er. „Nicht alle“, meint der Taxifahrer, „aber viele.“ Was mir aber später in Damaskus immer wieder bewusst wird: Es benötigt erhebliches Wissen, um zu verstehen, wer mit Waffen herumläuft – Männer in ungekennzeichneten Uniformen, manche in Zivil, manche mit den Symbolen verschiedener islamistischer Gruppen. Dazu Zivilisten, von denen sich manche an einer Art revolutionären Mode orientieren und zum Beispiel olivgrüne Schirmmützen tragen, die denen ähneln, mit denen Ahmad al-Sharaa/Muhammad al-Julani zeitweise aufgetreten war. Die Veränderungen in den Erscheinungsbildern der Menschen im öffentlichen Raum – hinzu kamen viele Besucher*innen aus anderen Landesteilen (z.B. Idlib) oder Rückkehrer*innen – sind Diskussionsthema unter den Damaszener*innen, von denen manche diese Vielfalt gut finden und manche sehr skeptisch bleiben.

In Damaskus treffe ich meinen Forschungspartner Orhan Nassif. Wir checken im Hotel Kaisar Palace ein, an der Sharia al-Thawra. Es ist frisch renoviert, mit sehr viel Gold- und Kronleuchterimitat und offenbart somit einen deutlichen Kontrast zum öffentlichen Raum, in dem greifbar wird, dass große Teile der syrischen Bevölkerung unter Armut leiden, während die Preise für Alltagsgüter in den Himmel schießen.

Davon ist im Kaisar Palace wenig zu spüren. Auf dem Weg in mein Zimmer komme ich an einer lautstarken Party vorbei, wo nach dem Ende der Live-Darbietung der momentan überall (teils bis zum Überdruss) laufende Revolutionshit gespielt wird: „Halte den Kopf hoch, du bist ein freier Syrer.” Jemand fragt den Rezeptionisten, wie lange die Party noch dauere.