Die neue syrische Realität
Die europäischen Medien zeichneten über Jahre ein Bild von Syrien als ein verarmtes, unsicheres Land voller Kriminalität und Terror. Auch nach dem Fall von Assad ändert sich daran wenig: Die Aufmerksamkeit verschiebt sich nun auf jedes Anzeichen, dass sich Islamismus in Syrien ausbreiten könnte. Für mich ist klar: Die einzige Sicherheit, die mich interessiert, ist, dass Assad weg ist – alles andere erscheint verhandelbar. In 55 Jahren hat das Assad-Regime die syrische Gesellschaft tief verwundet – durch Korruption, systematische Folter, Massenverhaftungen und den Einsatz chemischer Waffen gegen die eigene Bevölkerung. Mehr als eine Million Menschen wurden getötet, Millionen in die Flucht gezwungen, Hunderttausende verschwanden in Gefängnissen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein anderes Regime eine vergleichbare Brutalität entfalten könnte.
Die Folgen des Krieges bleiben sichtbar – beschädigte Autos, Müllberge, spürbare Armut. Militärgebäude stehen leer, Checkpoints sind weitgehend verschwunden. Und doch sind weiterhin Sicherheitskräfte präsent, besonders an Ortseingängen und zentralen öffentlichen Plätzen. Die meisten von ihnen tragen schwarze Uniformen mit dem Emblem des „Allgemeinen Sicherheitsdienstes“. Daneben sehe ich aber auch andere, unterschiedliche Uniformen – militärisch, aber schwer zuzuordnen. Wer diese Leute sind und welche Befugnisse sie haben, bleibt unklar. Dennoch fühle ich mich dadurch nicht unsicher: Unter al-Assad dagegen bedeuteten Uniformen des Militärs eine unmittelbare, oft unberechenbare Gefahr für Leib und Leben.
Und die Zivilisten? Sie begegnen mir weltoffen und freundlich, wie ich sie in Erinnerung habe. Ein Beispiel dafür ist der Intarsien-Verkäufer Abo Sharbel in Bab Tuma. Als ich bei ihm ein wunderschön verarbeitetes Backgammon-Spielbrett kaufe, trinken wir zusammen zwei Tassen Tee und unterhalten uns über Gott und die Welt. Beim Verabschieden gibt er mir ein Geschenk für meine Frau mit: von Christ zu Christin.
Ich besuche den Stadtteil Masaken Barzeh, wo ich aufgewachsen bin. Dort treffe ich meinen alten Nachbarn – nennen wir ihn Jamil. Wir freuen uns, uns wiederzusehen. Doch der Schmerz ist spürbar: Sein Vater, mehrere seiner Onkel und Cousins sowie viele unserer damaligen Schulfreunde wurden 2015 verhaftet und getötet, allein weil sie aus Daraa, dem Ursprungsort der Revolution gegen Assad, stammten. Die Hälfte der Jungs ist nicht mehr da. Ich frage ihn, wie er die Zukunft sieht. Er sagt: „Endlich sind wir frei von dieser kriminellen Bande. Al-Assad hat das Land beraubt und vergewaltigt. Jetzt ist es mühsam, aber wir werden es wieder aufbauen. Wenn das Volk und die Regierung gemeinsam handeln, können wir aus Syrien ein Paradies machen.“ Er spricht offen über seine Hoffnung in die neue Regierung und den Übergangspräsidenten Ahmad al-Sharaa. Gleichzeitig macht er klar: „Ich will einen säkularen Staat. Ich bin Muslim, aber Syrien war nie ein religiös geprägtes Land. Viele reiten gerade auf der Islamismus-Welle, weil die neue Regierung einen religiösen Hintergrund hat. Wenn das so weitergeht, geht das Land kaputt. Wir müssen authentisch sein – keine Schleimer mehr wie unter Assad.“ Jamil lobt Verbesserungen bei der Grundversorgung – Wasser, Strom, Treibstoff – aber er betont auch: Es braucht eine Übergangsjustiz. Er sagt: „Ich will, dass die Täter verhaftet werden. Ich will sehen, wie sie verurteilt werden. Das Volk muss diesen Prozess erleben. Eine Million Menschen sind tot. Wenn keine Gerechtigkeit geschieht, wird es zu Selbstjustiz kommen – und wieder zu Blutvergießen.“
Dass Jamil – trotz des Verlusts seiner Familie – an einen staatlichen Rechtsweg glaubt, gibt mir Hoffnung. Dass inmitten von Schmerz über gerechte Lösungen gesprochen wird, berührt mich tief. Vor allem, dass er die Selbstjustiz, die seit dem Fall von al-Assad immer wieder ausgeübt wird als Problem sieht. Wir stehen einfach auf der Straße und reden über Politik – ganz offen. Für mich fühlt sich das surreal an. Noch vor wenigen Jahren hätte ein solches Gespräch das Todesurteil bedeutet.
Auch in weiteren Begegnungen mit Freund*innen, Taxifahrern, Händler*innen und Familienmitgliedern erlebe ich etwas, das mir in Syrien lange unmöglich schien: politische Gespräche – öffentlich, ehrlich, ohne Angst. Viele lehnen die Idee eines islamischen Staats kategorisch ab. Das Bedürfnis nach Sicherheit, finanzieller Stabilität und Grundversorgung steht für die meisten deutlich vor der Forderung nach Demokratie. Aber der Wunsch nach einem Wandel bleibt spürbar – leise, aber bestimmt.