#16

Rückkehr nach Syrien – Eine persönliche Reflexion

von Orhan Nassif

Zwölf Jahre lang war es mir unmöglich, meine Heimat Syrien zu betreten, weil ich damit mein Leben riskiert hätte. Der überraschende Sturz von Bashar al-Assad im Dezember verändert alles. Nach zwölf Jahren Trennung ist eine Rückkehr plötzlich möglich – aber bin ich bereit dafür? In diesem Bericht halte ich meine Gedanken und Emotionen fest, die mich vor und während dieser Reise begleiten.

Die Tage vor der Reise – Wachsende Unruhe

Eine Woche vor dem Abflug nach Syrien sitze ich in unserer schönen Wohnung in Freiburg und spüre eine große Aufregung. Ich habe Angst – ein Gefühl, das ich lange nicht mehr so intensiv erlebt habe. Ich frage mich: Ist es wirklich nötig, dorthin zu reisen? Etwas in mir zögert. Je näher der Abflug rückt, desto nervöser werde ich. Ich fühle mich wie jemand, der auf einem Sprungbrett steht – wissend, dass er springen muss, aber zögernd. Was mich antreibt, trotz allem den Sprung zu wagen: Der Wunsch, der mich über ein Jahrzehnt begleitet hat, nur eine Viertelstunde in meinem alten Zimmer in Syrien zu sitzen, könnte bald Wirklichkeit werden.

Auf dem Weg nach Syrien

Meine Reise beginnt mit einem Flug nach Amman, Jordanien, um dann von dort aus über den Landweg per Bus über die Grenze und nach Damaskus zu fahren. Schon am Flughafen Frankfurt fällt mir auf, wie viele Syrer*innen dort arbeiten und auch reisen. Diese Syrer*innen, denen ich unterwegs begegne – in Deutschland wie in Jordanien –, wirken voller Hoffnung. Ich treffe zum Beispiel einen 26-jährigen Bauingenieur mit eigener Firma in Deutschland. Vor zehn Jahren wurde er im syrischen Duma inhaftiert und gefoltert. Mit viel Glück konnte er migrieren und sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen. An der syrisch-jordanischen Grenze spreche ich mit einem Arzt, der ein Krankenhaus in Saudi-Arabien leitet und nun eines in Aleppo eröffnen möchte. Auch er reist seit über zwölf Jahren zum ersten Mal wieder ein. Er sagt: „Jetzt ist die Chance da, das Land wieder aufzubauen – nachdem es von der Assad-Mafia ausgeplündert und misshandelt wurde.“

Die Begegnungen und Gespräche auf der Reise lassen mich spüren: Ich bin stolz auf meine Herkunft. Ich bin nicht mehr der Geflüchtete aus einem brennenden Land, sondern ein syrisch-deutscher Rückkehrer – jemand, der seine Heimat wiedersehen darf. Mein Syrisch-Sein wird schon unterwegs zu einer Stärke und ist keine Last mehr. Zwölf Jahre lang wurde mir in Deutschland stets dieselbe Frage gestellt: „Vermisst du deine Heimat?“ Meine Antwort lautete immer: „Es gibt keinen Menschen, der seine Heimat nicht vermisst.“ Aber über das Vermissen selbst habe ich so gut wie nicht gesprochen. Ich lernte, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren – keine Zeit für Trauer, keine Zeit für Schwäche. Jetzt kann ich Familie und Freund*innen in Deutschland Bilder zeigen, Geschichten erzählen, sie sogar nach Syrien einladen – ohne den Schmerz, dass Syrien ein unerreichbarer Ort ist. Jetzt ist es greifbar.

Als wir die Grenze überqueren, überkommt mich ein Gefühl, das sich kaum in Worte fassen lässt. Ich sehe aus dem Busfenster auf das vertraute Land – Tränen laufen still über mein Gesicht. Saz-Musik im Hintergrund, überkommen mich Erinnerungen an die Stationen meines Exils in Istanbul, Freiburg oder im Schwarzwald – überall ist Syrien in mir gewesen. Jetzt bin ich wirklich da.

Die Natur ist kaum verändert. Ich erkenne die Stein- und Pflanzenzarten. Ich erkenne den Hermon-Berg wieder, der imposant den Hintergrund des süd-westlichen Syriens dominiert. Ich erkenne das grüne Gras, das sich wie ein Teppich beiderseitig der Autobahn ausbreitet. Es ist Frühling, flüstere ich. Auch in meinem Gedächtnis blühen die Erinnerungen an Kindheitsfreuden auf, an Frühlinge mit gutem Wetter und die saisonalen Gerichte, die meine Oma damals gekocht hat. Aber vieles sieht auch anders aus. Eines der vielen Beispiele: Als ich 2013 das Land verließ, war Solarthermie eine neue Technologie. Heute sehe ich überall Photovoltaikanlagen – ein sichtbarer Wandel. Auf der Autobahn zwischen der jordanischen Grenze und Damaskus entdecke ich ausgebrannte Militärfahrzeuge und verlassene Panzer. Die meisten Checkpoints sind verschwunden. Aber ich erkenne die alten Kontrollstellen wieder – kleine Wachräume, ausgebrannt, überzogen mit verblassten Assad-Parolen, nun übermalt oder zerkratzt. Ich spüre es: al-Assad ist weg.

Die neue syrische Realität

Die europäischen Medien zeichneten über Jahre ein Bild von Syrien als ein verarmtes, unsicheres Land voller Kriminalität und Terror. Auch nach dem Fall von Assad ändert sich daran wenig: Die Aufmerksamkeit verschiebt sich nun auf jedes Anzeichen, dass sich Islamismus in Syrien ausbreiten könnte. Für mich ist klar: Die einzige Sicherheit, die mich interessiert, ist, dass Assad weg ist – alles andere erscheint verhandelbar. In 55 Jahren hat das Assad-Regime die syrische Gesellschaft tief verwundet – durch Korruption, systematische Folter, Massenverhaftungen und den Einsatz chemischer Waffen gegen die eigene Bevölkerung. Mehr als eine Million Menschen wurden getötet, Millionen in die Flucht gezwungen, Hunderttausende verschwanden in Gefängnissen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein anderes Regime eine vergleichbare Brutalität entfalten könnte.

Die Folgen des Krieges bleiben sichtbar – beschädigte Autos, Müllberge, spürbare Armut. Militärgebäude stehen leer, Checkpoints sind weitgehend verschwunden. Und doch sind weiterhin Sicherheitskräfte präsent, besonders an Ortseingängen und zentralen öffentlichen Plätzen. Die meisten von ihnen tragen schwarze Uniformen mit dem Emblem des „Allgemeinen Sicherheitsdienstes“. Daneben sehe ich aber auch andere, unterschiedliche Uniformen – militärisch, aber schwer zuzuordnen. Wer diese Leute sind und welche Befugnisse sie haben, bleibt unklar. Dennoch fühle ich mich dadurch nicht unsicher: Unter al-Assad dagegen bedeuteten Uniformen des Militärs eine unmittelbare, oft unberechenbare Gefahr für Leib und Leben.

Und die Zivilisten? Sie begegnen mir weltoffen und freundlich, wie ich sie in Erinnerung habe. Ein Beispiel dafür ist der Intarsien-Verkäufer Abo Sharbel in Bab Tuma. Als ich bei ihm ein wunderschön verarbeitetes Backgammon-Spielbrett kaufe, trinken wir zusammen zwei Tassen Tee und unterhalten uns über Gott und die Welt. Beim Verabschieden gibt er mir ein Geschenk für meine Frau mit: von Christ zu Christin.

Ich besuche den Stadtteil Masaken Barzeh, wo ich aufgewachsen bin. Dort treffe ich meinen alten Nachbarn – nennen wir ihn Jamil. Wir freuen uns, uns wiederzusehen. Doch der Schmerz ist spürbar: Sein Vater, mehrere seiner Onkel und Cousins sowie viele unserer damaligen Schulfreunde wurden 2015 verhaftet und getötet, allein weil sie aus Daraa, dem Ursprungsort der Revolution gegen Assad, stammten. Die Hälfte der Jungs ist nicht mehr da. Ich frage ihn, wie er die Zukunft sieht. Er sagt: „Endlich sind wir frei von dieser kriminellen Bande. Al-Assad hat das Land beraubt und vergewaltigt. Jetzt ist es mühsam, aber wir werden es wieder aufbauen. Wenn das Volk und die Regierung gemeinsam handeln, können wir aus Syrien ein Paradies machen.“ Er spricht offen über seine Hoffnung in die neue Regierung und den Übergangspräsidenten Ahmad al-Sharaa. Gleichzeitig macht er klar: „Ich will einen säkularen Staat. Ich bin Muslim, aber Syrien war nie ein religiös geprägtes Land. Viele reiten gerade auf der Islamismus-Welle, weil die neue Regierung einen religiösen Hintergrund hat. Wenn das so weitergeht, geht das Land kaputt. Wir müssen authentisch sein – keine Schleimer mehr wie unter Assad.“ Jamil lobt Verbesserungen bei der Grundversorgung – Wasser, Strom, Treibstoff – aber er betont auch: Es braucht eine Übergangsjustiz. Er sagt: „Ich will, dass die Täter verhaftet werden. Ich will sehen, wie sie verurteilt werden. Das Volk muss diesen Prozess erleben. Eine Million Menschen sind tot. Wenn keine Gerechtigkeit geschieht, wird es zu Selbstjustiz kommen – und wieder zu Blutvergießen.“

Dass Jamil – trotz des Verlusts seiner Familie – an einen staatlichen Rechtsweg glaubt, gibt mir Hoffnung. Dass inmitten von Schmerz über gerechte Lösungen gesprochen wird, berührt mich tief. Vor allem, dass er die Selbstjustiz, die seit dem Fall von al-Assad immer wieder ausgeübt wird als Problem sieht. Wir stehen einfach auf der Straße und reden über Politik – ganz offen. Für mich fühlt sich das surreal an. Noch vor wenigen Jahren hätte ein solches Gespräch das Todesurteil bedeutet.

Auch in weiteren Begegnungen mit Freund*innen, Taxifahrern, Händler*innen und Familienmitgliedern erlebe ich etwas, das mir in Syrien lange unmöglich schien: politische Gespräche – öffentlich, ehrlich, ohne Angst. Viele lehnen die Idee eines islamischen Staats kategorisch ab. Das Bedürfnis nach Sicherheit, finanzieller Stabilität und Grundversorgung steht für die meisten deutlich vor der Forderung nach Demokratie. Aber der Wunsch nach einem Wandel bleibt spürbar – leise, aber bestimmt.

Der Moment der Rückkehr

Der bedeutendste Moment meiner Reise ist der Augenblick, als ich mein altes Zimmer auf unserem Bauernhof betrete. Trotz vieler schöner Orte in meinem Leben blieb dieses Zimmer während meines Exils immer tief in meiner Erinnerung verankert als mein wichtigster erster eigener Rückzugsort. Vor meiner Abreise hatte ich Angst, dorthin zurückzukommen und mich dann fremd zu fühlen. Ich sehe aus dem Fenster auf den vertrauten Hof und weiß sofort: Das Fremdsein hat kein syrisches Visum bekommen. Es bleibt an der Grenze zurück.

Was bleibt: Hoffnung und Verantwortung

Trotz des traurigen Zustands Syriens bin ich – wie viele Rückkehrer*innen – voller Hoffnung. Ich glaube, dass sich Syrien erholen kann, vielleicht sogar stärker werden kann als zuvor. Die Priorität liegt heute auf Sicherheit, Versorgung und Infrastruktur. Aber ohne eine funktionierende Justiz und einen demokratischen Wandel wird Syrien langfristig keine nachhaltige Zukunft haben. Internationale Solidarität und die Aufhebung der Sanktionen sind essenziell, um dem Land eine echte Chance zu geben. Dieser Weg braucht Zeit, Energie, Geduld – und Menschen, die ihn gestalten und begleiten. Auch wir Syrer*innen selbst müssen aktiv werden: unsere Geschichte aufarbeiten, neue Wege gehen, die tiefen gesellschaftlichen Wunden heilen und den Mut finden, einen Umgang mit der eigenen Vergangenheit zu finden.