Developmentality in Südosteuropa: Die Evolution des Entwicklungsdiskurses in Bulgarien und der Türkei in der Verkehrsinfrastrukturdebatte
Das Projekt untersucht developmentality als spezifischen Diskurs über Fortschritt in Bulgarien und der Türkei anhand von Infrastrukturmaßnahmen. Seit dem 19. Jahrhundert ist Verkehrsinfrastrukturausbau – vor allem von Straßen und Bahntrassen – als aussichtsreiche Strategie gelobt worden, um die angenommene Rückständigkeit Südosteuropas zu überwinden. Der hiermit verbundene Diskurs hat sich als essentiell für die Legitimation oder Infragestellung von Herrschaft in Südosteuropa erwiesen. Die Vorgänge um die Verkehrsinfrastruktur dienen als empirische Anker, um Vorbilder sowie Ängste und ihre Abhängigkeit von historischen und politischen Determinanten herauszuarbeiten. Mit dem Vergleich zwischen den eng miteinander verwobenen Nachbarländern Bulgarien und der Türkei (und zuvor dem Osmanische Reich und seiner Donauprovinz) zielt das Projekt auf ein besseres Verständnis gemeinsamer Wurzeln als auch späterer Divergenzen in der Entwicklung der developmentality in Südosteuropa ab. Die innergesellschaftliche Selbsteinschätzung des Fortschrittprozesses zwischen proklamierter Rückständigkeit und evoziertem Aufbruch wird mit Schwerpunkt auf fünf neuralgischen Umbruchsphasen von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts analysiert – 1856: das zweite Reformedikt und der aus ihm später hervorgehende Modellbezirk Donau; 1878: die Gründung des autonomen Fürstentums Bulgarien und der neoabsoluten Herrschaft Abdülhamids II.; 1908: die Unabhängigkeit Bulgariens und die Wiedereinführung der Verfassung im Osmanischen Reich; 1923: die Etablierung der Zwischenkriegsordnung; und 1949: die jeweilige Integration der beiden Länder in das amerikanische bzw. sowjetische Bündnis. Durch die Analyse der Kritik an und des Zuspruchs zu Infrastrukturinvestitionen erfasst die Studie Momentaufnahmen des jeweiligen Selbstbildes. Mittels einer foucaultschen Diskursanalyse angelehnt an Arlette Farge und Alf Lüdtke werden diskursive Strategien und ihnen zugrundeliegende gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in einem historischen Längsschnitt analysiert. Durch den Vergleich des Verhältnisses von Infrastruktur zur Legitimität geht das Projekt der Frage nach, ob das Erlebnis der Moderne in Bulgarien und der Türkei vor allem durch das gemeinsame historische Erbe, regionale Bedingungen, wechselnde Ideologien oder Großmachteinfluss bestimmt wurde.
Das Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.