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Der Kampf um „Gerechtigkeit“ und „Legalität“: Minderheiten im Zarenreich und der Sowjetunion

Principal investigator: PD Dr. Stefan B. Kirmse

Dieses Projekt wird von einem ERC Consolidator Grant gefördert (JUSTIMINO, Nr. 101048445).

Von „Rechtsstaatlichkeit“ gibt es keine allgemein gültige Definition, stattdessen konkurrieren über ein halbes Dutzend Indices um Anerkennung und Einfluss. Dem Zarenreich und der Sowjetunion würde jedoch keiner dieser Indices eine hohe Punktzahl einräumen. Und doch waren „Legalität“ (zakonnost‘) und „Gerechtigkeit“ (spravedlivost‘) in beiden Staaten wichtig: Sowohl politische und kulturelle Eliten als auch die breite Bevölkerung beriefen sich beständig auf sie – mit Resultaten, die nicht vorhersehbar waren. Während die Forschung „Legalität“ und „Gerechtigkeit“ vor allem im Kontext staatlicher Politik thematisiert hat und dabei die Bedeutung der Konzepte für den allgemeinen Widerstand gegen die Obrigkeiten betont, wurde bislang kaum anerkannt, wie zentral beide Begriffe und die damit verbundenen Handlungs­spielräume für ethnische und religiöse „Minderheiten“ waren.

Nicht-russische Gruppen machten mehr als die Hälfte der Menschen im späten Zarenreich aus (und bildeten somit zusammen genommen sogar eine Mehrheit); in der Sowjetunion bean­spruch­ten sie knapp 50% der Bevölkerung. Während im Zarenreich die Rechte, Privilegien und Pflichten einer Person zu großen Teilen von der Religionszugehörigkeit abhingen, trat im Sozialismus eine ethnisch definierte „Nationalität“ an die Stelle der Religion: So wurde der Zugang zu Wohnorten, Berufen und Bildung im Zarismus stark von der Religion, unter sowjetischer Herrschaft dann von der Nationalität geprägt. Die Zugehörigkeit zu einer anderen religiösen oder ethnischen Gemeinschaft als der vorherrschenden (zumeist, aber nicht ausschließlich, der russischen) konnte offene oder subtile Formen der Diskriminierung nach sich ziehen. Die Diskriminierung erfolgte allerdings in den meisten Fällen weder automatisch, noch blieb sie unangefochten. Das JUSTIMINO-Projekt untersucht daher die Art und Weise, wie sich religiöse und nationale Minderheiten von den „Großen Reformen“ der 1860er Jahre bis zur Auflösung der UdSSR im Jahr 1991 routinemäßig auf „Legalität“ und „Gerechtigkeit“ beriefen und diese Strategien nutzten, um in repressiven Systemen ihre Rechte einzufordern und zu stärken. Es argumentiert, dass diese Systeme das zuließen und z.T. sogar förderten – selbst wenn die dadurch ausgelösten Debatten und Aktivitäten dazu beitragen konnten, ihre Autorität zu untergraben. Darüber hinaus waren zahlreiche Minderheiten auch unter zarischen und sowjetischen Eliten stark vertreten.

So betrachtet das interdisziplinäre Forschungsprojekt Minderheiten sowohl „von oben“ als auch „von unten“, als Teilnehmer*innen an politischen Entscheidungen und öffentlichen Debatten, als Klägerinnen und Richter und als Teil von lokalem Aktivismus. Was erwarteten muslimische und jüdische Gruppen im Zarenreich sowie krimtatarische, armenische und andere unter sowjetischer Herrschaft, wenn sie „Gerechtigkeit“ und „Legalität“ forderten? Wichtiger noch: wie und in welchem Maße ermöglichte ihnen diese Strategie, in zwei überaus autoritären Staaten ihre Rechte zu verteidigen? Während es in dieser Frage offensichtliche Unter­schiede zwischen dem Zarenreich und der Sowjetunion gibt, fallen auch signifikante Parallelen auf. Um diese zu untersuchen, unternimmt das Projekt eine multiperspektivische, historische Analyse in sechs Staaten des postsowjetischen Raumes, die das Studium  veröffentlichter Quellen mit intensiver Recherche in regionalen und zentralen Archiven sowie mit Oral history kombiniert. Im Rahmen dieser Arbeit wird zudem eine Datenbank über den Gebrauch von Rechtsmitteln durch Minderheiten erstellt, die mit NGOs und der breiteren Öffentlichkeit in einer Vielzahl innovativer Formate des Wissenstransfers diskutiert werden soll.

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