Lernen, als Nation zu fühlen: Nationalismus und Emotionen in türkischen Schulbüchern
Wie lernen wir, als Mitglieder einer Nation zu denken, zu fühlen und zu handeln? Wie kann ein nationales Zugehörigkeitsgefühl Teil des Alltagsbewusstseins werden? Das Projekt beschäftigt sich mit diesen in der Forschung bisher vernachlässigten Fragen durch die Untersuchung der Dynamiken, durch die nationale Empfindungen in den Köpfen von Kindern in der Schule verankert werden. Forschungen zum Nationalismus haben diesen vor allem unter ideologischen und programmatischen Gesichtspunkten sowie als Bestandteil politischer Bewegungen untersucht. Welche Rolle Nationalismus auf der Ebene individueller Denk- und Handlungsweisen zukommt, ist hingegen zu wenig erforscht. Auf Basis interdisziplinärer Zugänge soll analysiert werden, durch welche erfahrungs- und emotionsbezogenen Dimensionen aus einem Kind ein Mitglied einer Nation wird, um aufzuzeigen, wie Nationalismus operiert. Dieses Projekt analysiert nationalistische Narrative in Grund- und Sekundarschullehrbüchern, in denen die Differenzierung zwischen einer (nationalen) „In-Group“ und „out-groups“ im Kontext ihrer Gesellschaftsgeschichte und -gegenwart repräsentiert wird. Diese Narrative verankert bestimmte kognitive und emotionale Muster in den Köpfen der Kinder, die ihre Wahrnehmung als Mitglied einer bestimmten Nation und so ihre gesellschaftspolitischen Überzeugungen und Handlungen formen.
Das Projekt konzentriert sich auf die Türkei als besonders aufschlussreichen Fall aufgrund seines zentralisierten Schulsystems und der unbestreitbaren Dominanz einer unverhohlenen ethnisch-religiösen Nationalideologie. Das Projekt fokussiert auf die letzten vier Jahrzehnten (1980–2020), in denen das Land den Übergang von einem radikal säkularen und militärisch überwachten Regime zu einer islamisch-konservativen und autokratischen Herrschaft erlebte. Dies ermöglicht es dem Forscher, die Kontinuität sowie den Wandel der nationalistischen Narrative zu beobachten. Da der Nationalismus sowohl in der Diaspora als auch innerhalb der Grenzen des Nationalstaates erlebt wird, greift das Projekt den türkisch-deutschen Fall als Vergleich auf. Gegenübergestellt werden türkische Schulbücher, die für Türken in Deutschland produziert wurden, und Bücher, die in der Türkei benutzt werden, um eine umfassendere Analyse von türkisch nationalistischen Narrativen zu erzielen, die für unterschiedliche gesellschaftspolitische Bedingungen entworfen wurden.
Hauptsächlich durch Analysen der Narrative in Schulbüchern erforscht dieses auf Empirie basierende Projekt die Verbindungen zwischen nationalistischer Ideologie und individuellen Gedanken und Handlungen. Der Schwerpunkt liegt auf Erzählungen und Emotionen, welche die beiden Ebenen verbinden. Durch die Zusammenführung von empirischen, methodischen und konzeptionellen Forschungsbeiträgen aus der Wissenssoziologie, der Geschichte und Soziologie der Emotionen, der Nationalismusforschung und der Narrationsanalyse verfolgt dieses Projekt einen innovativen Zugang zu den Forschungsfragen.